Viszerosomatischer Reflex – der Hilferuf der inneren Organe

Ein osteopathischer Ansatz zur Interpretation und Behandlung somatischer Dysfunktionen

Einleitung

Die Osteopathie betrachtet den Körper als untrennbare Einheit, in der Struktur und Funktion eng miteinander verwoben sind. Ein zentrales Phänomen in diesem Zusammenhang ist der viszerosomatische Reflex – ein neurophysiologischer Mechanismus, über den innere Organe mit dem Bewegungsapparat kommunizieren. Dieser Reflex erklärt, wie viszerale Störungen somatische Beschwerden wie Muskelverspannungen, Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen auslösen können. In der osteopathischen Praxis dient er als Schlüssel zur Diagnostik und Therapie komplexer Beschwerdebilder.

Pathophysiologie des viszerosomatischen Reflexes

Der viszerosomatische Reflex basiert auf der Vernetzung des autonomen Nervensystems mit somatischen Strukturen. Innere Organe senden bei Dysfunktion oder Erkrankung afferente Signale über sympathische und parasympathische Nervenfasern an das Rückenmark. Dort konvergieren viszerale und somatische Nervenbahnen in denselben spinalen Segmenten. Durch diese Verschaltung aktivieren die Organimpulse efferente motorische und sympathische Neurone, die in den zugehörigen Dermatomen, Myotomen oder Sklerotomen reagieren.

Folgen sind:

  • Hypertonie der Muskulatur (z. B. verspannte paravertebrale Muskeln im betroffenen Segment),
  • Hautveränderungen (lokale Hyperalgesie, Temperaturunterschiede),
  • Viszerale Projektionsschmerzen (z. B. Gallenblasenbeschwerden, die in die rechte Schulter ausstrahlen).

Dieses Phänomen wird durch die Konvergenz-Projektions-Theorie erklärt: Da das Gehirn viszerale Schmerzsignale nicht eindeutig lokalisiert, projiziert es sie auf die zugehörigen somatischen Areale.

Osteopathische Diagnostik: Den Hinweisen des Körpers folgen

Osteopath:innen in Berlin nutzen den viszerosomatischen Reflex, um verborgene Organstörungen zu identifizieren. Typische palpatorische Befunde sind:

  • Gewebetexturveränderungen („viszerale Spannung“) in spezifischen Körperregionen,
  • Chapman-Reflexpunkte (kleine, druckschmerzhafte Knötchen im Bindegewebe, z. B. Magenpunkt im 5.–6. Interkostalraum links),
  • Eingeschränkte Mobilität von Gelenken oder Faszien, die einem Organsegment zugeordnet sind.

Beispiele für Organ-Somatik-Beziehungen:

  • Magendysfunktion → Verspannungen der Brustwirbelsäule (T5–T9),
  • Leberbelastung → eingeschränkte Schulterbeweglichkeit rechts (über Phrenikusnerv C3–C5),
  • Nierenstörungen → Schmerzen im Lumbalbereich (T12–L2).

Therapeutische Strategien in der Osteopathie

Die Behandlung zielt darauf ab, sowohl die viszerale Ursache als auch die somatische Reaktion zu adressieren:

  1. Viszerale Manipulation: Durch sanfte Techniken wird die Mobilität und Motilität des betroffenen Organs verbessert. Beispielsweise löst eine Mobilisation des Magen-Bandapparats Spannungen im thorakolumbalen Übergang.
  2. Myofasziale Release-Techniken: Verklebte Faszien oder hypertonische Muskeln im Reflexareal werden gelöst, um die Durchblutung und nervale Regulation zu normalisieren.
  3. Balancierung des autonomen Nervensystems: Craniosakrale Techniken oder Atemimpulse modulieren den Sympathikotonus, der oft bei chronischen Organstörungen erhöht ist.
  4. Integration struktureller Ketten: Da Dysfunktionen sich über Muskelketten ausbreiten, werden globale Haltungsmuster analysiert und korrigiert.

Fallbeispiel: Chronische Thorakalschmerzen und gastrale Verbindung

Eine 45-jährige Patientin klagt über rezidivierende Schmerzen zwischen den Schulterblättern. Die Anamnese zeigt zusätzlich Sodbrennen und Völlegefühl. Die osteopathische Untersuchung findet eine eingeschränkte Mobilität des Magens sowie hypertonische Mm. rhomboidel links. Nach drei Behandlungen mit viszeraler Magentechnik und myofaszialem Release der Brustwirbelsäule reduziert sich sowohl die somatische Symptomatik als auch die gastralen Beschwerden.

Differenzialdiagnostische Abgrenzung

Trotz des wertvollen Hinweischarakters viszerosomatischer Reflexe müssen Osteopath:innen stets ernsthafte Pathologien ausschließen. Linksseitige Armschmerzen könnten auf eine Herzerkrankung hinweisen, rechtsseitige Schulterbeschwerden auf eine Gallenkolik. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist hier essenziell.

Fazit

Der viszerosomatische Reflex unterstreicht die osteopathische Maxime, dass lokale Symptome Ausdruck globaler Dysbalancen sein können. Indem Therapeut:innen diese „Hilferufe“ der Organe entschlüsseln, gelingt eine ursachenorientierte Behandlung – jenseits rein symptomatischer Ansätze. Dieses Verständnis ermöglicht es, Patienten in ihrer Ganzheit zu erfassen und langfristige Gesundheit zu fördern.

Literaturhinweise

  • Barral, J.-P. (2003). Viszerale Osteopathie. Urban & Fischer.
  • Klinger, W. (2019). Neurophysiologie in der Osteopathie. Thieme.
  • Trowbridge, C. (2005). The Neurophysiological Basis of Osteopathic Medicine. Lippincott Williams & Wilkins.