Der Herzinfarkt (Myokardinfarkt) ist eine lebensbedrohliche Erkrankung, deren klinische Präsentation geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist. Während Männer oft klassische Symptome wie retrosternale Schmerzen und Ausstrahlung in den linken Arm zeigen, äußert sich der Infarkt bei Frauen häufiger durch unspezifische Beschwerden wie Übelkeit, Erschöpfung oder Oberbauchschmerzen. Diese Differenzen sind nicht nur für die Akutmedizin relevant, sondern auch für die osteopathische Diagnostik, die den Einfluss des autonomen Nervensystems (ANS) – Sympathikus und Parasympathikus – auf die Symptomgenese berücksichtigt. Dieser Artikel beleuchtet die pathophysiologischen Zusammenhänge und deren Bedeutung für die osteopathische Praxis.
Bei Männern dominiert das Bild des „typischen“ Herzinfarktes: starke Brustschmerzen, kalter Schweiß und Dyspnoe. Frauen hingegen berichten häufiger über atypische Symptome wie Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit oder unerklärliche Müdigkeit. Studien zufolge werden diese Unterschiede durch hormonelle, anatomische und neurovegetative Faktoren beeinflusst. So schützen Östrogene prämenopausal vor Atherosklerose, können aber in der Postmenopause zu einer verstärkten Vasoreaktivität führen. Zudem weisen Frauen eine höhere Schmerzschwelle und eine stärkere Neigung zur viszeralen Schmerzprojektion auf, was die Symptomvarianz erklärt.
Das ANS spielt eine Schlüsselrolle bei der Symptommodulation. Während einer Myokardischämie aktiviert die Hypoxie des Herzmuskels über afferente Nervenfasern Reflexbögen, die sowohl den Sympathikus (Stressantwort) als auch den Parasympathikus (Ruheantwort) stimulieren.
Die geschlechtsspezifische ANS-Antwort könnte evolutionär bedingt sein: Während Männer durch Kampf-/Fluchtmechanismen (Sympathikus) geschützt werden, priorisiert der weibliche Körper unter Östrogeneinfluss eher Schutzmechanismen, die den Energieverbrauch minimieren („Tend-and-Befriend“-Response).
In der Berliner Osteopathie steht die ganzheitliche Betrachtung des Patienten im Vordergrund. Die geschlechtsspezifische Symptomatik erfordert ein differenziertes Verständnis der ANS-Interaktionen, um lebensbedrohliche Zustände frühzeitig zu erkennen.
Osteopathische Techniken wie die viszerale Palpation oder die Analyse somatischer Dysfunktionen können hier wegweisend sein. Beispielsweise kann ein linksseitiger Hypertonus des Zwerchfells bei gleichzeitigem Palpationsbefund im Bereich des Herzens auf eine kardiale Beteiligung hinweisen – unabhängig vom Vorhandensein klassischer Schmerzen.
Die Unterdiagnostizierung von Herzinfarkten bei Frauen führt oft zu verzögerten Interventionen. Osteopath:innen können hier eine Brückenfunktion einnehmen, indem sie bei Risikopatientinnen (z. B. bei Hypertonie, Diabetes) gezielt nach ANS-Dysregulationen suchen. Ein Beispiel ist die Beurteilung der Herzratenvariabilität (HRV) als Indikator für die sympathovagale Balance. Eine reduzierte HRV korreliert mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko und könnte in der osteopathischen Anamnese als Warnsignal dienen.
Die geschlechtsspezifische Symptomatik des Herzinfarktes reflektiert komplexe Interaktionen zwischen Hormonen, Anatomie und dem ANS. Für Osteopath:innen liegt die klinische Bedeutsamkeit in der Integration dieser Erkenntnisse in die palpatorische Diagnostik und Differentialdiagnostik. Durch die Früherkennung autonomer Dysfunktionen und die gezielte Überweisung bei Verdacht auf kardiale Pathologie kann die osteopathische Praxis dazu beitragen, geschlechtsspezifische Versorgungslücken zu schließen und die Prognose betroffener Patient:innen zu verbessern.